Für den Neubau des Labor- und Technologiezentrums der Technische Hochschule Mittelhessen (THM) hat Ernst Stark den Stuhl Cité, der im Jahr 1930 von Jean Prouvé für ein Studentenwohnheim in Nancy entworfen wurde, in Originalgröße (H = 74 cm) aus einem Eichenstamm herausgeschlagen, und zweiundfünfzig mal in Bronze abgießen und in Anlehnung an den Originalfarbton rot patinieren lassen. Die 52 Bronzestühle wurden im Frühjahr 2019 nach Beendigung der Baumaßnahmen im Innen- und Außenbereich des neu entstandenen Campus der THM Gießen installiert. Die Installation CAMPUS soll die 52 Stühle von Nancy in ihrer Gesamtheit abbilden. Sie bildet einen Verweis auf die zweiundfünfzig Zimmer des Studentenwohnheimes, und somit indirekt auf die Geschichte(n) der Bewohner, die in diesen Räumen gelebt und gearbeitet haben.

Campus — Ein Skulpturenensemble von Ernst Stark

Ein Stuhl ist die Skulptur par excellence, die sich von unseren Körperproportionen ableiten lässt. Wie kaum ein anderes Möbelstück unseres Alltags repräsentiert ein Stuhl Maß und Proportion unseres menschlichen Körpers – von der Fußsohle bis zum Kniegelenk, vom Knie zum Gesäß und vom Steißbein bis zur Schulterpartie.
Ein Stuhl gehört zu den einfachsten aber auch geradezu idealtypischen Hilfsmitteln, um unserem Körper im Sitzen Halt zu geben. Neben Tisch und Bett ist ein Stuhl der meist genutzte Gebrauchsgegenstand sowohl in Schule und Beruf als auch für Kommunikation bei Speis und Trank. Der Stuhl nimmt quasi eine Stellvertreterfunktion für den Menschen ein. Er hat Beine, einen Sitz (Gesäß) und einen Rücken (Lehne), er repräsentiert eine Art von menschlicher Anatomie. Ohne Weiteres lässt sich eine ganze Kultur- und Kunstgeschichte des Stuhls vom Thron bis zum Sitzhocker schreiben und es gibt nur wenige Dinge unseres Alltags, die öfter und vielfältiger gestaltet wurden.

Der französische Ingenieur und Architekt Jean Prouvé (1901–1984) steht in diesem Sinne in einer langen Tradition von Designern. Sein Chaise Cité von 1930 wurde für die Cité Universi- taire in Nancy entworfen und lediglich in einer Auflage von 52 Stück für insgesamt 52 Räume eines Studentenwohnheimes realisiert. Der Stuhl ist filigran und extrem robust zugleich. Er zeichnet sich durch einfache Maße, eine klare Form und raffinierte Lösung im Detail aus. Ästhetische Proportion, Zweckdienlichkeit und Bequem- lichkeit sind von hoher formaler Kraft und ganz im Sinne von „form follows function“ des Produktdesigns gleichermaßen ausgewogen.

Der von Ernst Stark gewählte Titel Campus für seinen Wettbewerbsentwurf für den Neubau eines Labor- und Technologiezentrums in Gießen bezieht daher die aktuelle raumbezogene Situation der Technischen Hochschule Mittelhessen, als auch die historische Aufgabenstellung Jean Prouvés für die Universität in Nancy mit ein. Campus ist aber auch eine Skulptur in 52 Teilen. Ernst Stark ist ein Bild-Hauer und mit seiner Entscheidung den historischen Stuhl von Jean Prouvé nicht zu rekonstruieren sondern ihn aus einem einzigen Block Eichenholz herauszuschlagen macht seine künstlerische Haltung überdeutlich. Der Künstler übersetzt den originalen Stuhl in eine Skulptur. Die Holzmaserung des ursprünglichen Eichenholzstammes mit seinen Jahresringen ist dabei ein entscheidendes Gestaltungsmittel. Bei der späteren Abformung der Holzskulptur im Wachsausschmelzverfahren entstehen weitere Veränderungen im Detail, sodass sich die 52 Bronzeskulpturen in Nuancen von einander unterscheiden. Die anschließende Patinierung in einem Ochsenblutrot zitiert die Farbigkeit der originalen Fassung der Stuhlbeine von Jean Prouvé. Diese wohlbedachte Farbigkeit der 52 Skulpturen korrespondiert aber in besonderer Weise komplementär zu den Grüntönen der Neubauarchitektur und der Grünanlagen des Campusgeländes in Gießen. Durch die Vereinheitlichung der ursprünglichen Materialien Eisen und Holz in einen Bronzeguss und die ganzheitliche Farbgebung wird der skulpturale Charakter unterstrichen.

Die sehr lebendige Platzierung der 52 Skulpturen in unterschiedlichen Gruppen sowohl im Innen- als auch im Außenraum, akzentuieren die Blickachsen und Perspektiven, verstärken aber auch die Transparenz der Hochschularchitektur. Der räumliche Bezug war für Ernst Stark von Anbeginn von zentraler Bedeutung für seinen Entwurf. Die Skulpturengruppen rhythmisieren und dynamisieren den Freiraum vor und zwischen den Baukörpern, die Freiflächen werden so überhaupt erst zu einem Platz. Entscheidend für das skulpturale Ensemble ist die feste Verankerung der 52 Objekte im Boden. Die Skulpturen dienen darüber hinaus zum tatsächlichen Benutzen und zur Kommunikation. Sie werden als Sitzgelegenheit zum „Sockel“ für die Studierenden, die darauf Platz nehmen. Zwei Skulpturen bilden ein Paar – ab drei Exemplaren entsteht eine Gruppe, die szenisch mit einander verbunden sind. Jede Skulptur ist Teil einer Gemeinschaft. Sie stehen nicht in Reih und Glied wie die umliegenden Gebäude, sondern sie veranschaulichen die unhierarische Bewegungsfreiheit der Studierenden. Eine „Sitzordnung“ gibt es nicht. Die Skulpturen produzieren den demokratischen, nicht den aristokratischen Menschen. Die asketische Form verlangt allerdings Haltung. Auf diesem „Stuhl“ wird man wohl kaum einschlafen, er aktiviert vielmehr zur vitalen Wachheit auch im übertragenen Sinne. Dies ist folgenreich, denn bei einem Stuhl, den wir als ein Kunstwerk erkennen, neigen wir dazu, diesen dialektisch zu verstehen. Nicht die schlechteste Voraussetzung für einen Studienort.

Ein Atelierstipendium der Hessischen Kulturstiftung brachte den Künstler bereits 2007 nach Paris. Ernst Stark hat sich über einen längeren Zeitraum sehr intensiv mit dem Werk des französischen Gestalters Jean Prouvé und seiner Generation beschäftigt. Als gelernter Kunstschmied war für Jean Prouvé Metall der bevorzugte Werkstoff. Über profunde Materialkenntnisse und schlüssigem Einsatz von Verbindungstechniken gelang ihm jedoch auch eine perfekte Kombination mit Holz. Er übertrug Produktionstechniken aus der Industrie auf Möbel und Architektur bis hin zum Serienprodukt. Zum Zeitpunkt des Entwurfs seines Chaise Cité für die Cité Universitaire in Nancy war er Gründungsmitglied der „Union des Artistes Moderne (UAM)“, zu der u.a. Architekten und Designer wie Pierre Chareau, Charlotte Perriand und Robert Mallet-Stevens gehörten. Der Stuhl von 1930 ist mittlerweile ein rares Sammlerstück von Museumsrang. Die aktuelle Realisierung der 52 Skulpturen von Ernst Stark für Gießen (2017 – 2019) ist auch eine Hommage an einen der herausragenden „Konstrukteure“ des 20. Jahrhunderts.

Die besondere Qualität des Werkes von Ernst Stark besteht in der Balance zwischen figürlicher Skulptur, dem Abstraktionsgrad und der Übertragung des vorgefundenen „Stuhles“ von Jean Prouvé zunächst in Eichenholz und seiner endgültigen Fassung in patinierter Bronze und schließlich aus der Funktionalität als die- nende Sitzgelegenheit für die Studierenden auf dem Campus.

Mario Kramer

  • Das Modell wird aus einem Eichenstamm geschlagen, in mehrere Teile zerlegt und in Silikon abgeformt.
  • Die Silikonformen werden mit Wachs gefüllt.
    Die Gussformen aus Gips und Schamott werden um das Wachsmodell gegossen und das Wachs wird ausgeschmolzen. Der Bronzeguss in die Schamottformen erfolgt bei 1150 °C.
    Die Assemblage geschieht auf dem so genannten Montagetisch.
  • Die Patinierung in fünf Schichten in den Farben Beige, Rot, Beige, Schwarz und Rot und ein Überzug mit Speziallack schützen die Skulpturen vor Oxidation und Verwitterung.